now...
Der Tyran
.
Kurz vor dem Paß. Er hatte nicht erwartet, daß es ihm so leicht fallen würde.
Von Les Escaldes waren sie mit dem Bus nach Arinsal gefahren, bis zur letzten Station. Vor dem Hotel wendete der Bus. Jetzt im Juli standen hier nur ein paar Autos. Bar, Restaurant verkündete eine orangerot leuchtende Neonreklame. Die Tür war verschlossen. So wie das Hotel. Kein San Miguel. Er trank etwas Wasser. Sie hatte Hunger und aß ein paar Schokoladenkekse, die sie aus einer ihrer vielen Hosentaschen hervorholte. Wenn sie Hunger hatte, wurde sie unausstehlich. Mittag, es war warm, die Sonne schien.
Am Morgen hatte es geschneit. Kurz vor dem verlassen des Refugis hatten sie die feinen Schneeflocken bemerkt. Sie hatten nicht mit so tiefen Temperaturen im Juli gerechnet. Bis Escaldes würden sie drei Stunden laufen müssen. Drei Stunden bis zu einer Tasse Kaffee. Ihr war es egal wie der Ort hieß. Sie wünschte sich Handschuhe.
Der Pfad war gut zu erkennen, doch er verließ sich nicht darauf. Immer wieder suchten seine Augen die Landschaft nach den weiß roten Markierungen ab, die Ihnen den Verlauf des Weges, die Richtung, anzeigen würden.
Der alte Mann, der sie seit gestern begleitete, ging voran. Sie hatte sich gestern lange mit ihm unterhalten. Ein Schatten schien über seiner Vergangenheit zu liegen.
Sie begannen ihre Tour in Puigcerda. Hatte er nur den Proviant gekauft um ihrer, bei Hunger entstehenden, schlechten Laune vorzubeugen? Er wußte es nicht. Er wußte jedoch, daß er gerne früher losgegangen wäre. Morgens, und nicht erst gegen Mittag.
Am Vormittag war das Wetter noch gut. Es regnete nicht. Sie hatten sich nach Meranges fahren lassen. Es war der gleiche Taxifahrer, der sie am Vortag in die Avinguda Dr. Piguillem in das Hotel Del Lago gebracht hatte. Auch diesmal würde der Weg anstrengend werden. Sie wußte das. Schließlich hatte er ihr das oft genug gesagt. Von Meranges nach dem Refugi D´Engorgs würde der Weg nicht markiert sein, doch er würde ihn finden. Kein Grund um sich Gedanken zu machen. Immer nur bergauf und nicht zu weit nach links kommen.
Rechts oberhalb von ihnen, am Hang, befand sich der Trampelpfad der La´Tartera mit D´Engorgs verbindet. Diesen Pfad kannte er gut. Außerdem erinnerte er sich an einen Bach, der von weiter oben kommend, an dem Refugi vorbei ins Tal floß. In das Tal in dem sie aufwärts steigen würden.
Anfangs war der Weg leichter zu finden als er erwartet hatte. Es sah nach Regen aus.
Der Weg wurde steiler, wand sich zwischen verkrüppelten Bäumen hindurch. Es donnerte. Die erste kurze Steigung hatten sie hinter sich gebracht. Wenig später fing es an zu regnen. Der Pfad lief auf einen Steinunterstand zu. Das Unwetter kam schnell näher. Sie fragte ihn, ob es gefährlich werden könnte. Inzwischen war der Regen zu Graupel geworden. Seine Augen suchten den Hang ab. Er ging weiter. Das Gewitter wurde heftiger. Schien direkt über ihnen zu sein. Nasses Gras, rutschige Felsen. Jemand hatte an einigen Stellen entlang des Pfades Steine zur Orientierung aufgestapelt. Nach oben, immer weiter nach oben. Sie ging nicht gerne voran. Sie folgte, so wie sie es immer tat. Was sie nicht mochte, war umzukehren. Er konnte sehen wie der Bach in einer kleinen Schlucht unter ihnen zu Tal stürzte. Um nach oben zu gelangen hätten sie dicht an die Schlucht heran gehen müssen. Der Felsen vor ihm war steil und nass. Er sah sich um. Aus dem Graupel wurde wieder Regen. Sie befand sich noch ein gutes Stück unterhalb von ihm. „Ist zu riskant hier, ziemlich steil, wir müssen zurück.“ Er hatte befürchtet das sagen zu müssen.
Während er ihre Äußerungen über sich ergehen ließ, entdeckte er auf der anderen Seite des Baches einen Pfad. Seine Augen folgten der Linie abwärts. Bei den Bäumen hätten sie den Bach überqueren müssen. Zurück. Das Gewitter war weitergezogen. Es hörte auf zu regnen. Vor dem überqueren des Bachs machten sie eine Pause.
Er beobachtete sie.
Sie war mit ihren Gedanken sicherlich bei der alten Geschichte. Früher oder später würde sie wieder mit ihren Fragen anfangen. Er verabscheute ihre Fragen. Fragen die wie das ständige abkratzen des Schorfes einer Wunde waren. Ein Vorgang, der aus einer Narbe einen eiternden Abszess gemacht hatte. Ihre Blicke trafen sich. „Noch ein Stück Wurst?“ , fragte er. Sie nickte stumm.
Der Weg war gut zu finden. Er hielt an. Wartete auf sie und deutete mit dem Finger zu der Stelle an der er beschlossen hatte zurück zu gehen. „Siehst du, wäre zu riskant gewesen.“
Zwei Tiere liefen den Hang hinab. Schien irgend eine Marderart zu sein, ziemlich groß. Ein Tier blieb stehen, blickte sie an und lief dann schimpfend weiter. Das schlechte Wetter kam zurück.
Eine viertel Stunde später hatten sie die Schutzhütte erreicht. Nicht viel länger brauchte der Regen.
Die Hütte lag auf einer kahlen Fläche, drei Seiten von mehr oder weniger steilen Hängen umgeben. Es wäre gut gewesen, wenn sie Holz von weiter unten mitgenommen hätten. Nun mußten sie sich mit Holzresten und Tannenzapfen begnügen, die andere vor ihnen herauf getragen hatten. Nach wenigen Minuten brannte ein kleines Feuer, angenehme Wärme verbreitend. Der Regen prasselte auf das Dach. Sparsam ging er mit dem Brennmaterial um. Er hatte sich eine alte Zeitung, die in der Hütte herumlag, auf den eisernen Hocker gelegt. Tür, Fensterläden, Tisch und Bank, alles war aus Metall.
Gelegentlich drückte der Wind den Rauch durch den Schornstein zurück in den Ofen, der dann die Feuerklappe aufspringen ließ und Qualm ausspuckte. Hätte es nicht geregnet wären sie weitergegangen. Noch zu früh zum Schlafen.
„Da kommt einer“. Sie hatte die Gestalt kommen sehen, jedoch nicht damit gerechnet, daß der Wanderer die Hütte so schnell erreichen würde. Draußen war es kälter geworden. Sie schoben ihre Sachen, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatten, zusammen. Das Alter des Mannes schätzte er auf fünfundsechzig Jahre. Vollkommen durchnäßt. Der Platz, den sie auf dem Tisch gemacht hatten, müßte für seine Sachen ausreichen.
Man sah dem Mann an, daß er nicht zum ersten mal unterwegs war. Drahtig, durchtrainiert, gut ausgerüstet. Wenige Augenblicke später saß auch er dicht vor dem kleinen Ofen, die angenehme Wärme genießend.
In der Dämmerung des nächsten Tages setzten sie ihren Weg fort. Er kannte den Weg. „Dem Rinnsal entlang ein Stück nach oben, dann vor dem Berg nach rechts, einfach der Senke folgen. Wenn man auf die Seen zugeht links an vorbei. Nach den großen Steinen geht es dann links steil nach oben, auf Schotter und Geröll”, so hatte er es dem alten Mann beschrieben. Nach dem Aufstieg würden sie den nächsten Sattel sehen, den es zu überqueren galt. Einfach auszumachen, wenn man, wie er, die Strecke kannte. Doch zuerst mußten sie wieder nach unten, in das nach Westen aufwärts verlaufende Tal. Stetig und gleichmäßig folgte ihnen der alte Mann.
Unten im Tal machten sie eine Pause. Eigendlich wollte er die Kühle des Morgens ausnutzen und dem Pfad noch ein weiteres Stück folgen, doch schon beim Abstieg fing sie an zu nerven. Verdammt, sie hätte mit ihm und dem alten Mann vor dem verlassen der Hütte etwas essen können. Aber nein. “Die Kekse reichen mir,” hatte sie gesagt. Inzwischen hatte sie Durst bekommen. Außerdem hatte sie Lust auf etwas deftiges, auf etwas Wurst, die sie genießen möchte. Er wußte genau was sie mit dem Wort genießen meint. Seinen Ärger unterdrückend, schlug er ihr vor, unten im Tal zu rasten. Er würde dann auch seinen Kocher auspacken und ihr einen Tee zubereiten. “Meine Flasche ist leer, warte!” Er hielt an, ließ sie näher kommen, gab ihr seine Flasche.
Die Pause im Tal dauerte nicht lange. Dicht an dem kühlen Bach im Schatten sitzend, all seine Vorschläge missachtend fing sie an zu frieren. “Laß uns fünfzig Meter weiter gehen,” hatte er ihr vorgeschlagen und auf die kleine Anhöhe vor ihnen gezeigt. “ Nur da hoch, dort oben steht eine aus Geröll zusammengefügte runde Hütte, wir sind dann aus dem Schatten der Bäume raus und können uns von der Sonne wärmen lassen.” Sie wollte nicht. Frierend saß sie, ein Stück Wurst kauend, auf ihrem Rucksack.
Er hatte es satt, ihre Vorwürfe zermürbten ihn. Es gab nichts zuzugeben, aber irgendwann wiedersprach er nicht mehr. Die Auseinandersetzungen dauerten dann nicht so lange.
Der sanft ansteigende Pfad entlang des Riu de Vallcivera führte sie zu einem Wiesenplateau in einem Bergkessel. Halbwilde Pferde beobachteten sie, als sie sich dem umgestürzten Wegweiser näherten. “Da müssen wir hoch.” Er zeigte nach rechts. “Da hoch, dann ein Stück geradeaus, bis zum See. Am See links vorbei und dann sieht man schon das Dach von der großen Hütte.” Sie sah und hörte nicht hin, sondern reichte ihm ihre leere Flasche.
Der alte Mann ging voran. Unterhalb des umgestürzten Wegweisers hatte er im Windschatten eines Felsens in der Sonne gesessen. In einer Bibel lesend hatte er auf sie gewartet. Ein orientierungslos herumstreunendes, krankes Kalb blökte sie an, als sie ihren Weg gemeinsam fortsetzten. Das Kalb würde nicht mehr lange leben. Immer wieder enge Kreise drehend, zog es, bedingt durch das Gefälle, mit heraushängender Zunge, Talwärts.
Die folgende Nacht verbrachten sie im Refugi de L‘Illa. Sie hätten Ihren Weg fortsetzen können, doch er wollte nicht weiter. Wollte nicht weiter, um den alten Mann los zu werden. Es war am frühen Nachmittag und er hatte gehofft, daß der alte Mann weiterziehen würde. Doch der alte Mann blieb. Blieb, um ihr aus seinem Leben zu erzählen.
Als sie am morgen die Hütte verließen schneite es. Er wußte wo der alte Mann entlang gehen würde und er wußte wo sich ihre Wege trennen würden. Drei Stunden bis Escaldes, drei Stunden bis zu einer Tasse Kaffee.
Er sah sich um. Arinsal. Der alte Mann würde erst am nächsten Tag hier entlang kommen. Hatte er nicht etwas von einer Verabredung in Encamp erzählt? “Wir müssen da lang.” Er zeigte auf den Tunnel. Es gibt mehrere Möglichkeiten um von Arinsal nach Areu zu kommen. Er würde sich nach etwa zwei Kilometern für eine der Varianten entscheiden müssen.
Links entlang und sie würden in ein paar Stunden das bewirtschaftete Refugi erreichen. Ein San Miquel trinken, duschen, in einem Bett schlafen, um dann am nächsten Tag weiter zu ziehen. Der andere Weg, das wußte er, war nicht ungefährlich. Nur wenig Leute, wenn überhaupt, würden diese Route wählen.
Zwei holländische Touristen hatten die Hütte, unterhalb des Aufstiegs zum Forcats See, als zweiwöchige Dauerunterkunft in Beschlag genommen. Es wurden die üblichen Worte gewechselt.“Wir wollen heute noch über die Berge, bis zu der Blechhütte auf der spanischen Seite.” Der anfängliche Argwohn verschwand als das schwule Paar begriff, daß sie niemand in der folgenden Nacht stören würde.
Der Pfad führte, in engen Windungen, steil nach oben, bis zu dem fast waagerecht verlaufendem Stück, das, wie hineigeschlagen, an der Felswand entlang führte. Weiter oberhalb, von irgend wo her strömendes Wasser ließ die Felsen rutschig werden. Nur ein etwa drei Meter langer Teil des Pfades war davon betroffen, doch ausgerechnet an der engsten Stelle. Sorgfältig darauf achtend, wohin er seine Füße setzte, überquerte er dieses Stück. Tief unten sah er die Hütte, sah die Holländer, sah wie sie eine Hand flach an die Stirn gelegt hatten und zu ihnen hinauf spähten.
“Pass auf wo du hin trittst.” Er sah sich um, die nächste weiß-rote Markierung suchend, die ihnen den weiteren Verlauf des Anstiegs zeigen würde. “Wie weit noch?”, fragte sie. “Nur noch die Rinne hoch”. Sie würden sich beeilen müssen, um noch vor dem Einbruch der Dunkelheit die Blechhütte zu erreichen. Gleichmäßig, immer wieder nach den Markierungen ausschau haltend, ging er voran.
Es war kalt am See. Sie war ein paar Meter zurück geblieben und würde ihn gleich erreichen. Er stellte den Rucksak ab, zog seinen Pullover an, wartete und sah sich um. Der See. Gegenüber lag das Joch, das es noch zu überqueren galt. Wie der Schleier eines Braukleides schien der verharschte Schnee von dem Joch aus in den See hinein zu gleiten. Sie würden links um den See gehen. Über ein paar Meter alten Schnee, der das Ufer säumt, dann das Geröllfeld schräg nach oben durchqueren.
“Tritt in meine Spur, die obere Schicht des Schnees ist gefrohren und verdammt rutschig.” Mit seinen Schuhen zerstieß er die obere Schneedecke des nach rechts, zum See hin, abfallenden Schneefeldes. Sie folgte. “Mit der anderen hättest du nicht so eine Tour gemacht.” Er ging weiter. Es passierte vor zweieinhalb Jahren. Auf einem Fest, kurz nachdem sie sich wieder mal im Streit getrennt hatten, sah er dann diese andere Frau. Eins ergab das andere. Eins von dem anderen war, daß ihm diese Frau irgendwann mitteilte, daß sie schwanger sei. Sie haßte die andere Frau. Zwischen dem Geröllfeld und dem Schneeschleier konnte er eine dünne, ansteigende, auf das Joch zulaufende, sich etwas von dem Untergrund abhebende Linie erkennen. Sie sagte, daß es ihr nichts ausmachen würde, daß die andere von ihm ein Kind bekommen würde. Fragen, Vorwürfe, Beschimpfungen, handfeste Auseinandersetzungen, Trennung. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen. “Warum wollte sie überhaupt mit?” fragte er sich. Seitdem er mit ihr zusammen lebte hatte er sich verändert. Schon bevor er die andere traf war er, ohne sich dessen bewußt zu sein, ein Gefangener, ihr Gefangener und sie ließ ihn nicht los. Als das Kind geboren wurde fing sie an nachzurechnen.“Bist du sicher, daß du der Vater bist? Du hast es doch schon viel früher mit dieser Schlampe getrieben! Gib es zu!” Es gab nichts zuzugeben. Drei Meter unterhalb des Jochs verschwand der Pfad wieder unter der Schneedecke. Gedankenversunken ging er weiter. Plötzlich bemerkte er, daß er sich auf dem, in den See hineinragendem, Schneefeld befand, einer riesigen, weißen Rutsche. Bei dem Versuch, einen Tritt durch die obere, gefrohrene Schneedecke zu stoßen, würde er abrutschen. Vorsichtig sein Gewicht ausnutzend, es auf den, die Körperlast aufnehmenden Fuß verlagernd, erreichte er die schneefreie Fläche oberhalb des Sattels. Sie folgte.
Türkisfarben sah das Wasser von dort oben aus. Die Oberfläche des Sees hatte sich wieder geglättet. Eine rote Wasserflasche trieb einsam auf das Ufer zu.
Von Les Escaldes waren sie mit dem Bus nach Arinsal gefahren, bis zur letzten Station. Vor dem Hotel wendete der Bus. Jetzt im Juli standen hier nur ein paar Autos. Bar, Restaurant verkündete eine orangerot leuchtende Neonreklame. Die Tür war verschlossen. So wie das Hotel. Kein San Miguel. Er trank etwas Wasser. Sie hatte Hunger und aß ein paar Schokoladenkekse, die sie aus einer ihrer vielen Hosentaschen hervorholte. Wenn sie Hunger hatte, wurde sie unausstehlich. Mittag, es war warm, die Sonne schien.
Am Morgen hatte es geschneit. Kurz vor dem verlassen des Refugis hatten sie die feinen Schneeflocken bemerkt. Sie hatten nicht mit so tiefen Temperaturen im Juli gerechnet. Bis Escaldes würden sie drei Stunden laufen müssen. Drei Stunden bis zu einer Tasse Kaffee. Ihr war es egal wie der Ort hieß. Sie wünschte sich Handschuhe.
Der Pfad war gut zu erkennen, doch er verließ sich nicht darauf. Immer wieder suchten seine Augen die Landschaft nach den weiß roten Markierungen ab, die Ihnen den Verlauf des Weges, die Richtung, anzeigen würden.
Der alte Mann, der sie seit gestern begleitete, ging voran. Sie hatte sich gestern lange mit ihm unterhalten. Ein Schatten schien über seiner Vergangenheit zu liegen.
Sie begannen ihre Tour in Puigcerda. Hatte er nur den Proviant gekauft um ihrer, bei Hunger entstehenden, schlechten Laune vorzubeugen? Er wußte es nicht. Er wußte jedoch, daß er gerne früher losgegangen wäre. Morgens, und nicht erst gegen Mittag.
Am Vormittag war das Wetter noch gut. Es regnete nicht. Sie hatten sich nach Meranges fahren lassen. Es war der gleiche Taxifahrer, der sie am Vortag in die Avinguda Dr. Piguillem in das Hotel Del Lago gebracht hatte. Auch diesmal würde der Weg anstrengend werden. Sie wußte das. Schließlich hatte er ihr das oft genug gesagt. Von Meranges nach dem Refugi D´Engorgs würde der Weg nicht markiert sein, doch er würde ihn finden. Kein Grund um sich Gedanken zu machen. Immer nur bergauf und nicht zu weit nach links kommen.
Rechts oberhalb von ihnen, am Hang, befand sich der Trampelpfad der La´Tartera mit D´Engorgs verbindet. Diesen Pfad kannte er gut. Außerdem erinnerte er sich an einen Bach, der von weiter oben kommend, an dem Refugi vorbei ins Tal floß. In das Tal in dem sie aufwärts steigen würden.
Anfangs war der Weg leichter zu finden als er erwartet hatte. Es sah nach Regen aus.
Der Weg wurde steiler, wand sich zwischen verkrüppelten Bäumen hindurch. Es donnerte. Die erste kurze Steigung hatten sie hinter sich gebracht. Wenig später fing es an zu regnen. Der Pfad lief auf einen Steinunterstand zu. Das Unwetter kam schnell näher. Sie fragte ihn, ob es gefährlich werden könnte. Inzwischen war der Regen zu Graupel geworden. Seine Augen suchten den Hang ab. Er ging weiter. Das Gewitter wurde heftiger. Schien direkt über ihnen zu sein. Nasses Gras, rutschige Felsen. Jemand hatte an einigen Stellen entlang des Pfades Steine zur Orientierung aufgestapelt. Nach oben, immer weiter nach oben. Sie ging nicht gerne voran. Sie folgte, so wie sie es immer tat. Was sie nicht mochte, war umzukehren. Er konnte sehen wie der Bach in einer kleinen Schlucht unter ihnen zu Tal stürzte. Um nach oben zu gelangen hätten sie dicht an die Schlucht heran gehen müssen. Der Felsen vor ihm war steil und nass. Er sah sich um. Aus dem Graupel wurde wieder Regen. Sie befand sich noch ein gutes Stück unterhalb von ihm. „Ist zu riskant hier, ziemlich steil, wir müssen zurück.“ Er hatte befürchtet das sagen zu müssen.
Während er ihre Äußerungen über sich ergehen ließ, entdeckte er auf der anderen Seite des Baches einen Pfad. Seine Augen folgten der Linie abwärts. Bei den Bäumen hätten sie den Bach überqueren müssen. Zurück. Das Gewitter war weitergezogen. Es hörte auf zu regnen. Vor dem überqueren des Bachs machten sie eine Pause.
Er beobachtete sie.
Sie war mit ihren Gedanken sicherlich bei der alten Geschichte. Früher oder später würde sie wieder mit ihren Fragen anfangen. Er verabscheute ihre Fragen. Fragen die wie das ständige abkratzen des Schorfes einer Wunde waren. Ein Vorgang, der aus einer Narbe einen eiternden Abszess gemacht hatte. Ihre Blicke trafen sich. „Noch ein Stück Wurst?“ , fragte er. Sie nickte stumm.
Der Weg war gut zu finden. Er hielt an. Wartete auf sie und deutete mit dem Finger zu der Stelle an der er beschlossen hatte zurück zu gehen. „Siehst du, wäre zu riskant gewesen.“
Zwei Tiere liefen den Hang hinab. Schien irgend eine Marderart zu sein, ziemlich groß. Ein Tier blieb stehen, blickte sie an und lief dann schimpfend weiter. Das schlechte Wetter kam zurück.
Eine viertel Stunde später hatten sie die Schutzhütte erreicht. Nicht viel länger brauchte der Regen.
Die Hütte lag auf einer kahlen Fläche, drei Seiten von mehr oder weniger steilen Hängen umgeben. Es wäre gut gewesen, wenn sie Holz von weiter unten mitgenommen hätten. Nun mußten sie sich mit Holzresten und Tannenzapfen begnügen, die andere vor ihnen herauf getragen hatten. Nach wenigen Minuten brannte ein kleines Feuer, angenehme Wärme verbreitend. Der Regen prasselte auf das Dach. Sparsam ging er mit dem Brennmaterial um. Er hatte sich eine alte Zeitung, die in der Hütte herumlag, auf den eisernen Hocker gelegt. Tür, Fensterläden, Tisch und Bank, alles war aus Metall.
Gelegentlich drückte der Wind den Rauch durch den Schornstein zurück in den Ofen, der dann die Feuerklappe aufspringen ließ und Qualm ausspuckte. Hätte es nicht geregnet wären sie weitergegangen. Noch zu früh zum Schlafen.
„Da kommt einer“. Sie hatte die Gestalt kommen sehen, jedoch nicht damit gerechnet, daß der Wanderer die Hütte so schnell erreichen würde. Draußen war es kälter geworden. Sie schoben ihre Sachen, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatten, zusammen. Das Alter des Mannes schätzte er auf fünfundsechzig Jahre. Vollkommen durchnäßt. Der Platz, den sie auf dem Tisch gemacht hatten, müßte für seine Sachen ausreichen.
Man sah dem Mann an, daß er nicht zum ersten mal unterwegs war. Drahtig, durchtrainiert, gut ausgerüstet. Wenige Augenblicke später saß auch er dicht vor dem kleinen Ofen, die angenehme Wärme genießend.
In der Dämmerung des nächsten Tages setzten sie ihren Weg fort. Er kannte den Weg. „Dem Rinnsal entlang ein Stück nach oben, dann vor dem Berg nach rechts, einfach der Senke folgen. Wenn man auf die Seen zugeht links an vorbei. Nach den großen Steinen geht es dann links steil nach oben, auf Schotter und Geröll”, so hatte er es dem alten Mann beschrieben. Nach dem Aufstieg würden sie den nächsten Sattel sehen, den es zu überqueren galt. Einfach auszumachen, wenn man, wie er, die Strecke kannte. Doch zuerst mußten sie wieder nach unten, in das nach Westen aufwärts verlaufende Tal. Stetig und gleichmäßig folgte ihnen der alte Mann.
Unten im Tal machten sie eine Pause. Eigendlich wollte er die Kühle des Morgens ausnutzen und dem Pfad noch ein weiteres Stück folgen, doch schon beim Abstieg fing sie an zu nerven. Verdammt, sie hätte mit ihm und dem alten Mann vor dem verlassen der Hütte etwas essen können. Aber nein. “Die Kekse reichen mir,” hatte sie gesagt. Inzwischen hatte sie Durst bekommen. Außerdem hatte sie Lust auf etwas deftiges, auf etwas Wurst, die sie genießen möchte. Er wußte genau was sie mit dem Wort genießen meint. Seinen Ärger unterdrückend, schlug er ihr vor, unten im Tal zu rasten. Er würde dann auch seinen Kocher auspacken und ihr einen Tee zubereiten. “Meine Flasche ist leer, warte!” Er hielt an, ließ sie näher kommen, gab ihr seine Flasche.
Die Pause im Tal dauerte nicht lange. Dicht an dem kühlen Bach im Schatten sitzend, all seine Vorschläge missachtend fing sie an zu frieren. “Laß uns fünfzig Meter weiter gehen,” hatte er ihr vorgeschlagen und auf die kleine Anhöhe vor ihnen gezeigt. “ Nur da hoch, dort oben steht eine aus Geröll zusammengefügte runde Hütte, wir sind dann aus dem Schatten der Bäume raus und können uns von der Sonne wärmen lassen.” Sie wollte nicht. Frierend saß sie, ein Stück Wurst kauend, auf ihrem Rucksack.
Er hatte es satt, ihre Vorwürfe zermürbten ihn. Es gab nichts zuzugeben, aber irgendwann wiedersprach er nicht mehr. Die Auseinandersetzungen dauerten dann nicht so lange.
Der sanft ansteigende Pfad entlang des Riu de Vallcivera führte sie zu einem Wiesenplateau in einem Bergkessel. Halbwilde Pferde beobachteten sie, als sie sich dem umgestürzten Wegweiser näherten. “Da müssen wir hoch.” Er zeigte nach rechts. “Da hoch, dann ein Stück geradeaus, bis zum See. Am See links vorbei und dann sieht man schon das Dach von der großen Hütte.” Sie sah und hörte nicht hin, sondern reichte ihm ihre leere Flasche.
Der alte Mann ging voran. Unterhalb des umgestürzten Wegweisers hatte er im Windschatten eines Felsens in der Sonne gesessen. In einer Bibel lesend hatte er auf sie gewartet. Ein orientierungslos herumstreunendes, krankes Kalb blökte sie an, als sie ihren Weg gemeinsam fortsetzten. Das Kalb würde nicht mehr lange leben. Immer wieder enge Kreise drehend, zog es, bedingt durch das Gefälle, mit heraushängender Zunge, Talwärts.
Die folgende Nacht verbrachten sie im Refugi de L‘Illa. Sie hätten Ihren Weg fortsetzen können, doch er wollte nicht weiter. Wollte nicht weiter, um den alten Mann los zu werden. Es war am frühen Nachmittag und er hatte gehofft, daß der alte Mann weiterziehen würde. Doch der alte Mann blieb. Blieb, um ihr aus seinem Leben zu erzählen.
Als sie am morgen die Hütte verließen schneite es. Er wußte wo der alte Mann entlang gehen würde und er wußte wo sich ihre Wege trennen würden. Drei Stunden bis Escaldes, drei Stunden bis zu einer Tasse Kaffee.
Er sah sich um. Arinsal. Der alte Mann würde erst am nächsten Tag hier entlang kommen. Hatte er nicht etwas von einer Verabredung in Encamp erzählt? “Wir müssen da lang.” Er zeigte auf den Tunnel. Es gibt mehrere Möglichkeiten um von Arinsal nach Areu zu kommen. Er würde sich nach etwa zwei Kilometern für eine der Varianten entscheiden müssen.
Links entlang und sie würden in ein paar Stunden das bewirtschaftete Refugi erreichen. Ein San Miquel trinken, duschen, in einem Bett schlafen, um dann am nächsten Tag weiter zu ziehen. Der andere Weg, das wußte er, war nicht ungefährlich. Nur wenig Leute, wenn überhaupt, würden diese Route wählen.
Zwei holländische Touristen hatten die Hütte, unterhalb des Aufstiegs zum Forcats See, als zweiwöchige Dauerunterkunft in Beschlag genommen. Es wurden die üblichen Worte gewechselt.“Wir wollen heute noch über die Berge, bis zu der Blechhütte auf der spanischen Seite.” Der anfängliche Argwohn verschwand als das schwule Paar begriff, daß sie niemand in der folgenden Nacht stören würde.
Der Pfad führte, in engen Windungen, steil nach oben, bis zu dem fast waagerecht verlaufendem Stück, das, wie hineigeschlagen, an der Felswand entlang führte. Weiter oberhalb, von irgend wo her strömendes Wasser ließ die Felsen rutschig werden. Nur ein etwa drei Meter langer Teil des Pfades war davon betroffen, doch ausgerechnet an der engsten Stelle. Sorgfältig darauf achtend, wohin er seine Füße setzte, überquerte er dieses Stück. Tief unten sah er die Hütte, sah die Holländer, sah wie sie eine Hand flach an die Stirn gelegt hatten und zu ihnen hinauf spähten.
“Pass auf wo du hin trittst.” Er sah sich um, die nächste weiß-rote Markierung suchend, die ihnen den weiteren Verlauf des Anstiegs zeigen würde. “Wie weit noch?”, fragte sie. “Nur noch die Rinne hoch”. Sie würden sich beeilen müssen, um noch vor dem Einbruch der Dunkelheit die Blechhütte zu erreichen. Gleichmäßig, immer wieder nach den Markierungen ausschau haltend, ging er voran.
Es war kalt am See. Sie war ein paar Meter zurück geblieben und würde ihn gleich erreichen. Er stellte den Rucksak ab, zog seinen Pullover an, wartete und sah sich um. Der See. Gegenüber lag das Joch, das es noch zu überqueren galt. Wie der Schleier eines Braukleides schien der verharschte Schnee von dem Joch aus in den See hinein zu gleiten. Sie würden links um den See gehen. Über ein paar Meter alten Schnee, der das Ufer säumt, dann das Geröllfeld schräg nach oben durchqueren.
“Tritt in meine Spur, die obere Schicht des Schnees ist gefrohren und verdammt rutschig.” Mit seinen Schuhen zerstieß er die obere Schneedecke des nach rechts, zum See hin, abfallenden Schneefeldes. Sie folgte. “Mit der anderen hättest du nicht so eine Tour gemacht.” Er ging weiter. Es passierte vor zweieinhalb Jahren. Auf einem Fest, kurz nachdem sie sich wieder mal im Streit getrennt hatten, sah er dann diese andere Frau. Eins ergab das andere. Eins von dem anderen war, daß ihm diese Frau irgendwann mitteilte, daß sie schwanger sei. Sie haßte die andere Frau. Zwischen dem Geröllfeld und dem Schneeschleier konnte er eine dünne, ansteigende, auf das Joch zulaufende, sich etwas von dem Untergrund abhebende Linie erkennen. Sie sagte, daß es ihr nichts ausmachen würde, daß die andere von ihm ein Kind bekommen würde. Fragen, Vorwürfe, Beschimpfungen, handfeste Auseinandersetzungen, Trennung. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen. “Warum wollte sie überhaupt mit?” fragte er sich. Seitdem er mit ihr zusammen lebte hatte er sich verändert. Schon bevor er die andere traf war er, ohne sich dessen bewußt zu sein, ein Gefangener, ihr Gefangener und sie ließ ihn nicht los. Als das Kind geboren wurde fing sie an nachzurechnen.“Bist du sicher, daß du der Vater bist? Du hast es doch schon viel früher mit dieser Schlampe getrieben! Gib es zu!” Es gab nichts zuzugeben. Drei Meter unterhalb des Jochs verschwand der Pfad wieder unter der Schneedecke. Gedankenversunken ging er weiter. Plötzlich bemerkte er, daß er sich auf dem, in den See hineinragendem, Schneefeld befand, einer riesigen, weißen Rutsche. Bei dem Versuch, einen Tritt durch die obere, gefrohrene Schneedecke zu stoßen, würde er abrutschen. Vorsichtig sein Gewicht ausnutzend, es auf den, die Körperlast aufnehmenden Fuß verlagernd, erreichte er die schneefreie Fläche oberhalb des Sattels. Sie folgte.
Türkisfarben sah das Wasser von dort oben aus. Die Oberfläche des Sees hatte sich wieder geglättet. Eine rote Wasserflasche trieb einsam auf das Ufer zu.
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